Akte Ministry – Die offizielle Autobiographie von Al Jourgensen

Al Jourgensen

Al Jourgensen bezeichnet sich selbst als Alien. Mit Ministry wurde er in den 80er und 90er Jahren zum Gründervater des Industrial Metal. Zwischendrin nahm er Alben mit den verschiedensten Projekten (Revolting Cocks, Lard, Buck Satan) auf und produzierte bzw. remixte fleißig für diverse Künstler. Jourgensen fiel im Laufe seiner Karriere immer wieder durch Exzesse und seltsames Benehmen auf. Ein Blick hinter die Kulissen legt nun Erinnerungen eines Mannes offen, der sich, ginge es nach den Gesetzen der Medizin, an nichts erinnern dürfte und längst tot sein müsste. Seine gemeinsam mit  Jon Wiederhorn entstandende Autobiographie gibt es unter dem Titel „Akte Ministry“ nun auch in deutscher Sprache.

Jourgensen wurde  am 8. Oktober 1958 als Alejandro Ramriez Casas in Havanna geboren und größtenteils von seiner Großmuter aufgezogen, bevor er in die Vereinigten Staaten kam und seine Mutter – bei Als Geburt selbst noch ein Teenager – den ehemaligen Amateur-Rennfahrer Ed Jourgensen heiratete. Seine Kindheit beschriebt er als schwierig, wobei gewisse Darstellungen von einem Zwischenruf relativiert oder gar widerlegt werden. Hier liegt eine der großen Stärken dieses Buches. Jon Wiederhorn ließ verschiedenste Leute aus Jourgensens Umfeld zu Wort kommen, über den Musiker erzählen und gleichzeitig auf bestimmte Aussagen gezielt eingehen. Dass Stiefvater Ed über die Vorwürfe bezüglich körplicher Züchtigung andere Ansichten hat, überrascht kaum.

Überhaupt ist Wiederhorn der Star dieser Autobiographie, auch wenn er selbst kaum zu Worte kommt. Der Musikjournalist hat nicht nur den richtigen Personen die richtigen Fragen für spannende Interviewsituationen gestellt, er vermochte es noch dazu Al Jourgensen eine Vielzahl an Geschichten aus den Rippen zu leiern, wo dieser doch mehrfach zu Protokoll gibt, dass er ungern in der Vergangenheit lebt und deswegen, unter anderem, große Schwierigkeiten damit hat seine größten Hits live darzubieten. Überhaupt, wie von gleich mehreren Zwischenrufern bestätigt wird, ist Jourgensen eigentlich ein schüchterner, witziger Zeitgenosse, der viel lieber daheim auf der Couch sitzen, ein paar Biere zischen und ein Eishockey- oder Baseball-Spiel im Fernsehen ansehen würde.

Und doch ist „Akte Ministry“ über weite Strecken schwer zu lesen, was an Jourgensens schonungsloser Ehrlichkeit und unorthodoxer Darstellungsweise zwischen trockerner Nüchternkeit und bissigstem Sarkasmus liegt. Der Musiker war jahrzehntelang von den verschiedensten Drogen abhängig – heute sollen es nur noch Gras und Alkohol sein – und verlebte entsprechend viele Exzesse. Beobachtete Bestialität im Studio, stellenweise gar widerwärtiger Sex mit Groupies und beklemmende Drogen-Fantasien machen es umso verwunderlicher, dass Jourgensen mit Ministry ein Genre erschaffen und gleich revolutionieren konnte, auch wenn dahinter, wie er mehrfach betont, keinerlei Absicht steckte.

Zwischen Razzien, Todesfällen (das Buch endet mit dem Tod Mike Scaccias, einem langjährigen engen Freund und musikalischen Weggefährten des Ministry-Masterminds, auf offener Bühne im Rahmen einer Rigor Mortis-Show) und Jourgensens eigenen Nahtoderfahrungen durchzieht ein Silberstreif der Hoffnung das letzte Drittel von „Akte Ministry“: Angelina Lukacin, die vom durchgeknallten Groupie zur Lebensretterin und schließlich Ehefrau wurde. Mehrfach bedankt sich der Musiker bei ihr im Verlauf des Buchs und gibt an, dass er ohne sie heute nicht mehr am Leben sein würde. Vor wenigen Monaten, bereits nach Erscheinen des englischen Originals zu „Akte Ministry“, ließen sich die beiden scheiden – der eigentliche, bedrückende Schlusspunkt.

Trotz aller Widrigkeiten, trotz allen Ekels ist „Akte Ministry“ lesenswert; vielleicht um sich nach Abschluss wie ein Überlebender zu fühlen, vielleicht um die Musik und das Hirn hinter Ministry und dem legendären „Psalm 69“-Album zu verstehen. Al Jourgensens ehrlicher, offensiver und zynischer Umgang mit seiner eigenen Vergangenheit wird sicherlich nicht jedermanns Geschmack sein, andererseits gibt es kaum ein Buch, das sich besser für eine Anti-Drogen-Kampagne eignen würde. Faszinierend ist dieser schwer verdauliche Autounfall dennoch – nicht zuletzt dank Wiederhorns genialen Zwischenrufen und der überaus gelungenen Übersetzung ins Deutsche von Andreas Diesel. „The Dirt“ ist dagegen Kinderkram.

Al Jourgensen - Akte Ministry - Die offizielle Autobiografie

Akte Ministry
VÖ: 29.09.2014
I.P. Verlag

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