Tokio Hotel – Kings Of Suburbia

Tokio Hotel

Comeback, das. Rückkehr einer oder mehrerer Personen des öffentlichen Lebens, eines Stils oder einer Mode in den Mittelpunkt des medialen Interesses. Zumindest laut diesem Wikipediaeintrag legt die Magdeburger Band Tokio Hotel zurzeit mit großem Echo ein ebensolches hin (auch wenn sie selbst dies stets in Interviews verneint). Von den musikalischen Anfängen, als 2005 von Weltschmerz und Pubertätsproblemen durchtränkte Songs wie „Durch den Monsun“ und „Rette mich“ durch sämtliche Teeniezimmer dröhnten, ist anno 2014 nichts mehr übrig geblieben. Schon mit ihrer dritten Platte „Humanoid“ im Jahr 2009 bewiesen die vier Jungs rund um die Kaulitz-Brüder Bill und Tom, dass weitaus mehr in ihnen steckt als ein temporäres Jugendphänomen. Nach annähernd 1825 Tagen Funkstille und gefühlt mindestens genau so vielen modischen Veränderungen präsentiert sich die Combo auf „Kings Of Suburbia“ nun zeitgemäß elektronisch – und weiß damit durchaus positiv zu überraschen.

Die elf Tracks der Standard Version offenbaren die markanteste Entwicklung: Charakteristische Rock-Riffs wurden größtenteils gegen Synthesizer und eine gehörige Portion Auto-Tune eingetauscht; deutsche Texte: Fehlanzeige. Musikalisch verknüpft man modernen Electro-Pop mit den in den 80er Jahren höchst erfolgreichen Stilrichtungen Synthie-Pop und New Wave. Besonders der titelgebende Track „Kings of Suburbia“ baut auf dem bewährten Rezept à la Depeche Mode und Co. auf, und versetzt den Hörer in eine Zeit zurück, als die vier Bandmitglieder gerade erst das Licht der Welt erblickten. Der Song „Covered In Gold“ schafft dank seines eingängigen Refrains und der unterschiedlichsten Dance-Elemente problemlos den Spagat zwischen Retro und Moderne, auch wenn Bills Stimme hier teils bis zur Unkenntlichkeit verfremdet wurde.

Während man bei der ersten Singleauskopplung „Love Who Loves You Back“ besonders zu Beginn an „Sweet Harmony“ von The Beloved erinnert wird, haut das vieldiskutierte „Girl Got A Gun“ mit dem masturbierenden Plüschmonster im Video so richtig rein. Hier darf sich Tom zum ersten und annähernd einzigen Mal während des gesamten Albums an seiner Gitarre austoben, und sorgt somit für Nostalgiestimmung in den Ohren der Langzeitfans. Insbesondere der, zugegeben wenig tiefsinnige, Chorus sorgt für höchste Ohrwurmgefahr; der Mittelteil nimmt einen dann wieder unweigerlich mit auf Zeitreise in das Jahrzehnt der neongrellen Farben, Zauberwürfel und peinlichen Fönfrisuren. Eine weitere entscheidende Komponente, die angeblich wilden durchzechten Partynächte der Zwillinge in L.A., greifen Tokio Hotel mit den äußerst tanzbaren Titeln „Feel It All“, „We Found Us“ und „Never Let You Down“ auf. Letztgenannter Song enthält dabei durchaus hörbar Parallelen zu den aktuellen Werken von Lady Gaga.

Doch inmitten der computergesteuerten Electro-Sause finden sich mit „Run, Run, Run“ und dem großartigen „Invaded“ auch waschechte Balladen mit Gänsehautfaktor. Obwohl man Bill wahrlich nicht als hervorragenden Sänger bezeichnen kann, so verleiht er den Zeilen dank seiner wiedererkennbaren Stimmfarbe eine durchgehende Tiefe und vermittelt eine im Musikgeschäft nur schwer erreichbare Eigenschaft: Glaubwürdigkeit. Und selbst Fans, die sich die „alten Zeiten“ rund um „Schrei“ und „Zimmer 483“ zurückwünschen, dürften sich mit „Stormy Weather“ und besonders dem Rausschmeißer „Louder Than Love“ gut arrangieren können. Wer sich die Deluxe Edition für ein paar Euronen mehr sichert, bekommt gleich vier Bonustracks, von denen vor allem „The Heart Get No Sleep“ und das düstere „Masquerade“ überzeugen. Die iTunes Deluxe Edition enthält zusätzlich das 24-minütige englischsprachige Videointerview „Time That We Have The Talk“.

Wer im Vorfeld ernsthaft mit einem derartigen vierten Tokio Hotel-Album gerechnet hat, darf ohne Diskussion als Hellseher bezeichnet werden. Bill, Tom, Georg und Gustav beweisen eindrucksvoll, dass sie ihr Teenieidol-Image längst abgestreift haben und legen mit „Kings Of Suburbia“ einen gereiften, auf den zweiten Blick eindeutig abwechslungsreichen Longplayer vor. Jeder leidenschaftliche Kritiker und Gegner der Band in den letzten knapp zehn Jahren sollte sich dringend auf das Experiment „Tokio Hotel 2.0“ einlassen, bevor er eine vorschnelle Meinung abgibt. Die mitunter lächerlichen Kommentare zeigen, wie sehr die Band noch heute polarisiert, obwohl man es hier mit einer von vorne bis hinten stimmigen Produktion zu tun hat. Kein einziger Song wirkt wie schnell aus der Hüfte geschossen, im Gegenteil: Spätestens nach mehrmaligem Hören wird klar, wie viel Zeit und Herzblut die Magdeburger in das souveräne Ergebnis investiert haben. Und für alle, die sich den guten, alten Deutsch-Rock/Pop zurückwünschen: Angesichts des erwartbaren und verdienten Erfolgs einfach mal auf das fünfte Album warten.

Tokio Hotel - Knights Of Suburbia

Kings Of Surburbia
VÖ: 03.10.2014
Island Records (Universal Music)

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