Tocotronic – Die Unendlichkeit

Tocotronic

Im Nachhinein betracht, hatte das „Rote Album“ seine Schwächen. Tocotronics Flirt mit Pop pendelte zwischen Sternstunden und so mancher Schwäche. Für das mittlerweile zwölfte Studioalbum traut man sich erstmals seit anderthalb Jahrzehnten wieder an (auto-)biographisches Material. „Die Unendlichkeit“ hört sich wie eine große Indie-Coming-of-Age-Geschichte, gekleidet in das etatmäßige Indie-Rock-Soundgewand aus der Ära vor der faszinierenden „Berlin“-Trilogie. Anders gesagt: retro, aber nicht zu retro.

Die Vorabsingles brachten die alte, neue Herangehensweise der deutschen Indie-Institution auf den Punkt: rückblickend, aber ohne schmalzige Nostalgie. Vom trotzigen „Hey Du“, ein herrlich direkter Track mit selbstbewusster Kampfansage an die Schläger aus der Jugend, über das hibbelige „1993“ – Tocotronics Gründungsjahr – bis zum unwahrscheinlich lässigen „Electric Guitar“ – eine fantastische Hymne übers Erwachsenwerden, die aktuell auch bei Klez.e prima funktionieren könnte – deckt das Quartett so ziemlich alles ab, was es biographisch und musikalisch zu sagen gibt. Dass hier Hit auf Hit folgt, versteht sich von selbst.

Hinter diesen Vorboten, zu denen auch der herrlich verkopfte und überlange Titelsong mit seiner psychedelisch-noisig angehauchten Sinnsuche zählt, wird es schon ein wenig schwieriger. Echte Stinker fehlen, aber zumindest die letzten vier Tracks sind musikalisch eher okay – alles andere als schlecht, aber eben ’nur‘ okay. Auch „Bis uns das Licht vertreibt“ wirkt zunächst gewöhnungsbedürftig, räumt mit seiner Kettcar-Bridge und dem „Schall & Wahn“-Chorus aber doch noch ab.

Zuvor packen Tocotronic aber noch zwei weitere Mini-Hits aus. „Ich lebe in einem wilden Wirbel“, diese Ode an die erste große Liebe, scheint zunächst Standardkost zu bieten, wächst jedoch mit jedem weiteren Durchlauf. Rick McPhails jaulende Gitarre veredelt den Track im richtigen Moment. Der vielleicht ungewöhnlichste Song auf „Die Unendlichkeit“ ist allerdings „Unwiederbringlich“. Begleitet von einer fröhlichen, gar sprunghaften Melodie, philosophiert Dirk von Lowtzow über die Zugfahrt zu einem Freund, der im Sterben liegt. Der Protagonist kommt zu spät, ergeht sich zuvor aber in großartigen Zeilen. „Dein Tod war angekündigt / das Leben ging dir aus / Unversöhnlich / schlich es aus dir hinaus“ – Gänsehaut im Kammerspiel.

Nach 15 langen Jahren lüften Tocotronic den Schleier von komplexen Theorien und Manifesten, um sich mit der eigenen Geschichte auseinanderzusetzen. „Die Unendlichkeit“ ist trotz seiner Direktheit – vielleicht auch gerade deswegen – eine knifflige Platte geworden, die nach dem einen oder anderen Anlauf verlangt. Nicht jede Idee zündet, zumindest lyrisch wirkt von Lowtzow jedoch so frisch wie schon lange nicht mehr. Begleitet von reiheweise kleinen Hits und einer kurzen Rundreise durch die Band-Diskographie, entpuppt sich dieses zwölfte Studioalbum als Quadratur des ewigen Kreises, als Anknüpfungspunkt und Abschluss, zugleich aber auch als Start für neue, unerwartete Wege. Die Zukunft wird spannend, vor allem aber eines: Tocotronic.

Tocotronic - Die Unendlichkeit

Die Unendlichkeit
VÖ: 26.01.2018
Vertigo Berlin (Universal Music)

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