St. Vincent – All Born Screaming

St. Vincent
(c) Alex Da Corte

Selbst ist die Frau, so schwer und frustierend das ab und an auch sein mag. Annie Clark aka St. Vincent hatte bereits ihre bisherigen Platten allesamt co-produziert, übernahm dieses Mal jedoch den Vorsitz und kümmerte sich um die komplette Produktion ihres neuesten Streichs. Das bedeutete zwar mehr denn je die Möglichkeit, die eigene kreative Vision durchzusetzen, war zugleich jedoch von allerlei Selbstzweifeln und Frustrationen begleitet. Prominente Gäste und Unterstützter, begleitet von schonungsloser Ehrlichkeit in Text und Ton, lassen „All Born Screaming“ alte und neue kreative Wege gehen.

Zahlreiche Studiomusiker*innen gaben sich die Klinke in die Hand, darunter gleich vier Personen am Drumhocker. Prominentester Vertreter ist ohne Frage Dave Grohl, der gleich doppelt zu den Sticks griff. Was er mit dem komplexen, gerne mal proggigen „Flea“ anstellt, ist große Kunst und unterstützt das warme, temperamentvolle Arrangement Clarks gekonnt. Ihr Gitarrenspiel sägt prima, trifft auf etwas Art-Pop und wird schließlich richtig schön trippy. In „Broken Man“, das mit TripHop und Funk flirtert, wirbelt Grohl ebenfalls umher und lehnt sich lässig zurück, während der Track immer lauter wird. Neo-Foo Fighters-Drummer Josh Freese hat an den Leerstellen des Openers „Hell Is Near“ hörbare Freude.

Zu den wichtigsten Gästen zählt jedoch Cat Le Bon, die Clark über eine besonders düstere Phase, als Selbstzweifel jeglichen Fortschritt zu torpedieren schienen, gekonnt hinweghalf. Nicht nur das, sie sorgte für die verspielte, pulsierende Bassline des abschließenden Titelsongs „All Born Screaming“, dessen anfängliche Leichtigkeit mehr und mehr dem tanzbaren Chaos die Tür öffnet und am Ende sogar an Poliça erinnert. Die ätherische Fragilität von „The Power Is Out“ überrascht mit weicher Balladenfärbung und einer Gitarre, die natürlich wieder bis zur Unkenntlichkeit verfremdet wird – mindestens so toll wie „Reckless“, ebenfalls unfassbar bewegend, aber auch technoid und immer destruktiver werdend.

Nach dem ersten Schockmoment folgt der Aha-Effekt: St. Vincent wagt sich noch weiter hinaus und verfremdet ihre Gitarre auf eine Weise, die selbst Brecht Freudentränen in die Augen treiben würde. „All Born Screaming“ ist eklektrischer und elektronischer denn je, ohne dabei die Fesseln der erdigen, organischen Warmherzigkeit zu verlassen. Tiefe Einblicke in eine zerrissene und zugleich heilende Seele verdrehen den Kopf und rauben den Atem – immer wieder aufs Neue packend, ja geradezu spektakulär. Die sich auf Raten entfaltende Magie dieses neuen Longplayers hallt noch lange nach.

Wertung: 4/5

Erhältlich ab: 26.04.2024
Erhältlich über: Virgin Music (Universal Music)

Website: ilovestvincent.com
Facebook: www.facebook.com/St.Vincent