Belgrad – Lysis

Belgrad
(c) Belgrad / Zeitstrafe

Große Worte brauchen keine großen Worte, und so entschieden sich Belgrad, ihr zweites Album ohne besondere Vorankündigung unters Volk zu bringen, am Nachmittag vor dem Release angekündigt und direkt bereit für, nun ja, große Dinge. Etwas über sechseinhalb Jahre nach dem schlicht „Belgrad“ betitelten Einstand war das natürlich eine kleine Überraschung. Untätig waren die Musiker aus Berlin und Hamburg aber nicht, spielten live, ließen sich inspirieren und bemühten sich um kreative Frische. „Lysis“ wurde somit gleich zum Doppelalbum mit 14 Tracks in 74 Minuten, die sich großen Themen lyrisch annähern und mit cleverem Anspruch letzte Post-Punk-Limits aufsprengen.

Ein ellenlanger Prolog und Epilog – vorgelesene Spoken-Word-Performances, im ersten Teil sogar von Jürgen Vogel vorgetragen – bilden einen faszinierenden Rahmen für eine beklemmende Abfahrt nach der anderen. „Rachel & Joseph“ fährt als Tragödie durch Mark und Bein. Der grollende Basslauf, die drückenden Drums, die beiläufige Melodik und der nicht minder minimalistische Vortrag – ein starkes Fundament für einen Road-Trip mit fatalen Konsequenzen, dessen Eskalation nicht kaltlässt. Das folgende „Markt fressen Seele“ übt pointierte Kritik und sieht den Verlust der Menschlichkeit im menschenfressenden Kapitalismus, begleitet von federnder, ominöser Düsternis.

Belgrad erzählen packende Geschichten zwischen persönlicher Färbung und Abstrahierung. „Agnetha“ wagt, ähnlich wie zuletzt Nichtseattle, einen Blick hinter die Häuserwand und probt den Eskapismus inmitten mangelnder Zukunftsaussicht. So direkt und rockig hört man das Trio nur selten – der hibbelige, poppige Post Punk von „Verdammter Fleck“ schafft das ebenfalls. Hingegen rührt „WSW“, die Milieustudie des Alters mit jazziger Trompete von Johann Plietzsch, mit jeder Sekunde mehr. Die anerkennungslose Einsamkeit von „40Grad“ zerstört ebenso, während in „Schwanensee“ die unweigerliche Finalität im vertonten und wortwörtlichen Absturz lauert.

Hier von ’schwerer Kost‘ zu sprechen, ist grenzenlose Untertreibung. „Lysis“ könnte eigentlich ein passendes Album für den Spätherbst sein, doch wäre das zu einfach. Und genau das wollen Belgrad offenkundig nicht. Sie fordern sich nicht nur selbst heraus, auch die Hörerschaft muss über sich hinauswachsen. Es lohnt sich, denn dieser gewaltige Sprung nach vorne, gerade nach einem ohnehin bereits starken Einstand, weiß zu beeindrucken. Ohne ordentlich Geduld und Sitzfleisch geht hier gar nichts, muss man die vielfältige musikalische Präsentation doch ebenso erst in aller Ruhe erkunden und analysieren wie die grandiosen Texte. „Lysis“ verlangt Mut und entlohnt fürstlich – ein kleines, großes Meisterwerk des gebrochenen Seelenfriedens.

Wertung: 4,5/5

Erhältlich ab: 26.04.2024
Erhältlich über: Zeitstrafe (Indigo)

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