Interview mit Sepultura-Sänger Derrick Green

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Weltliteratur scheint die neue Spezialität von Sepultura zu sein. Nach dem Konzeptalbum „Dante XXI“ über Dantes „Divina Commedia“ dreht sich die neue Platte um „A Clockwork Orange“ von Anthony Burgess. Die Brasilianer zeigen sich auf „A-Lex“ ungeahnt vielfältig, setzen die verschiedenen Abschnitte der Geschichte musikalisch zwischen unbändiger Härte und psychedelischen Ausflügen um. Sogar ein symphonisches Stück darf nicht fehlen. Sänger Derrick Green erklärt, warum ihn „A Clockwork Orange“ so sehr fasziniert.

Es war schon länger bekannt, dass ihr ein Konzeptalbum über "A Clockwork Orange" aufnehmen würdet. Wann und wie seid ihr auf diese Idee gekommen?

Die Idee ist in etwa zeitgleich mit den Aufnahmen zu „Dante XXI“ entstanden. Wir haben uns aber für die Umsetzung zur „Divina Commedia“ entschieden. Später haben wir uns viel Zeit genommen und Nachforschungen über das Buch „A Clockwork Orange“ und den Autor Anthony Burgess angestellt, um herauszufinden, warum er dieser Buch geschrieben hat.

Du hast bereits erwähnt, dass ihr schon über "Dante" ein Konzeptalbum geschrieben habt. Warum gleich noch eines hinterher?

Die Arbeit zu „Dante“ war sehr natürlich und fruchtbar. Uns sind die Songs beinahe zugeflogen, wir waren zu dieser Zeit unheimlich kreativ, weil die Geschichte auch so viel hergibt. Dieses Mal haben wir ein komplett anderes Konzeptalbum aufgenommen, nicht nur weil es in einer ganz anderen Zeit spielt. Dadurch haben wir auch eine ganz andere Energie bekommen.

Im Vorfeld der Aufnahmen ist Iggor Cavalera ausgestiegen. Ursprünglich wollte er mehr Zeit mit seiner Familie verbringen, tourt nun aber unter anderem mit seinem Bruder. Was genau hat ihn damals zu seinem Ausstieg bewogen?

Er war einfach des Tourens und Spielens müde. Vermutlich hat das begonnen, nachdem sein Bruder die Band verlassen hat, was auch schon über zehn Jahre her ist. Das scheint er nie so ganz verdaut zu haben. Im Vorfeld der Aufnahmen zu „Dante“ wirkte er müde. Kaum hatten wir los gelegt, hatte er gute Ideen. Mit seinen DJ-Auftritten und seinen Reisen war einfach viel los. Seine Frau hat ihn dazu bewegt mit seinem Bruder zu reden. Mich hat sehr gefreut, dass sie wieder miteinander reden. Die Idee zu diesem Projekt kam wohl von seinem Bruder. Iggor macht immer noch diese DJ-Auftritte, weil es einfach ganz anders als die Metal-Sachen ist. Für ihn war es einfach wichtig, nach so einer langen Zeit wieder mit seinem Bruder zu reden. Wir sprechen noch ab und an, sind weiterhin gute Freunde. An seinen DJ-Auftritten hat er momentan große Freude.

Mit seinem Nachfolger Jean Dolabella könntet ihr kaum glücklicher sein, oder?

Nein, er ist unglaublich. Jean ist deutlich jünger als wir anderen und bringt diese gewaltige Energie mit. Außerdem ist er ein Multitalent, spielt auch Gitarre und Bass, dazu unterschiedliche Drum-Styles. Nachdem wir mit ihm einige Zeit lang unterwegs waren, wussten wir, dass wir mir Jean etwas unglaublich Kreatives erzeugen können. Außerdem ist es angenehmer, wenn jemand gerne in der Band und auch on the road ist.

Wie weit war er in das Songwriting zu "A-Lex" involviert?

Er ist ein vollwertiges Mitglied der Band und hat daher auch eine große Rolle gespielt. Jean hat sehr viele Anlagen mitgebracht. Dadurch, dass er eben viele Instrumente spielt, konnte er auch bei Riffs und Bassparts beisteuern bzw. Änderungen vorschlagen. Er für einen Großteil des Albums wichtig, wenn nicht sogar für das komplette Ding.

Auf dem Album treffen Thash- und Death-Parts auf Streicher und Bläser. Wie lange hat es gedauert, das Material zu schreiben und die beiden Welten miteinander zu vereinen?

Geschrieben haben wir die Songs in einem Zeitraum von ca. drei Monaten, teilweise bereits auf Tour. Wirklich aufwändig waren die klassischen Elemente. Das hat ganz schön lange gedauert, weil wir zum ersten Mal mit einem Orchester gearbeitet haben. Mit einem Dirigenten kann man allerdings sehr leicht und angenehm arbeiten und umarrangieren wenn nötig. Die Hauptfigur Alex liebt klassische Musik und deswegen mussten wir diesen Anteil mit einem Orchester realisieren. Ich habe den ganzen Prozess auf Photo und Video festgehalten. Im Endeffekt weiß ich gar nicht, wie wir die Platte fertig bekommen haben (lacht), weil es einfach so viel war und noch dazu ein großes Chaos. Irgendwann haben wir einfach auf Autopilot geschalten und das Ding mit Vollgas durchgezogen.

Der Albumtitel "A-Lex" ist ein Wortspiel aus dem Namen der Hauptfigur Alex und dem russischen Ausdruck für "gesetzlos". Welche Bedeutungsebene siehst du?

Für mich ist es auch eine Kurzform für Alexander den Großen. Im Buch ist Alex der Anführer und hat seine Männer an sich. Sie haben immer getan, was sie wollten. Auch ist es wie eine Droge. Überall sind Medikamente – Uppers und Downers, die unseren Gefühlshaushalt regeln sollen. Das Wortspiel finde ich großartig, denn so kann wirklich jeder seine persönliche Bedeutung herauslesen.

"A Clockwork Orange" besteht aus mehreren Teilen. Wie habt ihr die verschiedenen Teile innerhalb des Albums realisiert?

Das Buch hat vier Teile, wobei für mich der letzte Teil eine signifikante Rolle gespielt hat, um das Album zu machen. Ich bin ein Fan des Films und wollte wissen, wie das Buch geschrieben ist und zu Ende geht. Vor allem hat das Buch im Gegensatz zur gekürzten Film-Version ein positives Ende. Jeder muss für sich selbst entscheiden und auch seine eigenen Fehler machen. Genau darüber haben wir auch während den Proben gesprochen. Hatten wir einen brutalen Part geschrieben, musste der in den ersten Teil des Albums. Kam ein psychedelischer Song rum, war der für den Mittelteil angedacht, wo Alex im Gefängnis unter Drogen gesetzt wird. Nach und nach haben wir dann die Songs und das Album an sich zu einem Puzzle zusammengeführt.

Weiters habt ihr Exzerpte aus dem Leben des Autors Anthony Burgess eingebaut. Wie hat dessen Leben zur Geschichte gepasst?

Das Buch macht mehr Sinn, wenn man Burgess‘ Leben kennt. All die Typen aus dem Buch beziehen sich auf die Jugend des Autors. Unter anderem wurde seine Frau in ihrer Jugend von amerikanischen Soldaten attackiert. Der Schriftsteller im Buch ist Burgess selbst, der gerade „A Clockwork Orange“ schreibt. Mich beeindrucken auch die Überlegungen über die Existenz des freien Willens, der ja durch die Droge beeinflusst wird, sowie die Täter-Opfer-Dynamik. Man fragt sich auch immer wieder, wer richtig und wer falsch liegt, wer Gut und wer Böse symbolisiert. Dadurch, dass Anthony Burgess so viel in diese Geschichte gepackt hat, war es leicht Lyrics dazu zu schreiben.

Wie leicht oder schwer war es, passende Texte zu finden, die auch dem Buch gerecht werden?

Natürlich ist es für manche Kapitel leichter als für andere, denn gewisse Passagen setzen sich einfach fest. Wir mussten aber jeden Abschnitt eindecken wie zum Beispiel das eröffnende Kapitel. Das immer wieder vorkommende „What’s it gonna be?“ ist für Alex signifikant, der ja auch einen starken Wandel in seinem Willen durchmacht. Zunächst ist er frei, weil er macht, was er will. Das ist verdammt punk-rock. Solche Phrasen, wie auch „Ultra-Violence“ oder „Moloko Mesto“, blieben bei mir einfach hängen und mussten eingebaut werden. Es sollte aber nicht ein reiner Zitate-Friedhof sein. Das Buch ist ja auch sehr eigenwillig geschrieben, weil Burgess – ein Linguist – sehr viele Wörter erfindet. Es wäre nicht sinnvoll gewesen, wenn man für das Album ein eigenes Wörterbuch gebraucht hätte. Burgess spielt geschickt mit Sprache, verwendet vor allem zahlreiche Cockney-Auszüge. Ich musste mich mit Sekundärliteratur und weiterführenden Büchern beschäftigen, um wirklich ein Verständnis für Burgess und seine Formulierungen zu entwickeln. Das Ergebnis ist unglaublich und richtig beeindruckend.

Wichtig für die Geschichte ist auch das Stück "Ludwig Van", Alex' Lieblings-Komponist. Wie wurden die verschiedenen Beethoven-Stücke im Studio realisiert?

Es wäre sicherlich zu viel gewesen, wenn wir zum Beispiel die komplette Neunte verwendet hätten. Andreas wollte die wichtigsten Abschnitte einbauen, wie zum Beispiel die „Ode an die Freude“. Das ist nicht eine Feier der Menschheit, sondern auch eine Feier des freien Willens. Außerdem zieht sich Beethoven wie ein roter Fadern durch das Buch.

Für eine Autowerbung habt ihr den Song "Coquinho" eingespielt, der absolut gar nichts mit Sepultura zu tun hat. Was steckt dahinter?

Die Idee kam von der Werbeagentur und war verdammt mutig. Wir sollten Bossa Nova spielen und ich dazu auf Portugiesisch singen. Zunächst dachten wir, dass es ein Scherz sein sollte. Wir hatten ein paar Kids im Studio, die erst einmal ziemlich erstaunt waren, dass wir Bossa Nova spielen. Überhaupt hat das in Brasilien für großes Erstaunen gesorgt. Der Werbespot ist fast stündlich gelaufen. Seither will mich ein jeder „Coquinho“ singen hören (lacht). Ich singe ja auch über eine Kokosnuss, die das Meer die ganze Zeit hin und herspült – sehr schräges Zeug. Auf jeden Fall war es verdammt witzig und ich hatte Spaß an der Reaktion der Leute.

Danke für das Interview. Dir und deinen Jungs alles Gute für die nächsten Monate.

Besten Dank! Wir sehen uns im Februar.