Into It. Over It. – Figure

Nach dem Ende einer Europatour zu „Standards“ fand Evan Weiss einen Scherbenhaufen vor. Sein langjähriger Wegbegleiter Josh Sparks verließ die Band endgültig, daheim hatte er weder Job noch Krankenversicherung, saß auf einem Berg an Tourschulden und sah seine Beziehung enden. Als plötzlicher Single in einen Nine-to-Five-Job begann er mit den Fehlern der letzten Jahre zu hadern und fand in der Musik letztlich den Anlass, sein Leben wieder in den Griff zu bekommen. „Figure“ war ursprünglich nicht als Into It. Over It.-Album geplant, nur um das Projekt mit frischem Wind und gereiften Ansichten erneut aufleben zu lassen.
Weiss schrieb „Figure“ mit Schlagzeuger und Audio-Engineer Adam Beck, den er als Retter in dunklen Zeiten bezeichnet. Gemeinsam mit langjährigen Freunden wurden diese zwölf neuen Songs schließlich auf Platte gebannt – teils eine Abkehr von der etwas poppigeren Reduktion auf „Standards“ und Rückkehr zu mehr Gitarren, ohne diese neueren Ideen komplett zu verwerfen. Das packende „Courtesy Greetings“ zählt zu den schönsten neuen Songs. Indie und Emo geben sich die Klinke in die Hand, begleitet von einer fieberhaften Gesangsperformance rund um das Zerbrechen einer Beziehung, während man sich gegenseitig versichert, es sei doch alles in Ordnung – das geht mindestens so nahe wie das aufwühlende „Dressing Down // Addressing You“. In einer emotionalen Zwischenwelt gefangen, verwandeln sich nachdenkliche Töne sukzessive in kratzbürstige Schroffheit, nur um wieder zurück ins Ungewisse zu finden.
Das stete Suchen, Hoffen, Analysieren und Rekapitulieren zieht sich wie ein roter Faden durch „Figure“. „This is the night where our ending starts“, lautet die erste Zeile im Opener „They Built Our Bench Again In Palmer Square“, und betrachtet den endgültigen Zerfall einer bereits irreparabel beschädigten Beziehung im blubbernden und zugleich zurückgenommenen Nirgendwo bleierner Emotionen. Die kurzweilige Intensität von „Perfect Permanship“ schlägt binnen Sekunden in feinsinnige Harmonien um, dann folgt die Melancholie und schließlich das große Nichts. „We Prefer Indoors“ wirft viele Fragen auf und gibt kaum Antworten, dafür packt der Midtempo-Track großartige Hooks aus. Die süßliche Schwere von „A Lyric In My Head I Haven’t Thought Of Yet“ scheint schließlich den Weg in eine bessere Zukunft zu finden. Es besteht noch Hoffnung.
„Figure“ erschöpft durch seine schonungslose Ehrlichkeit und ist gerade deswegen so packend. Wie sich Evan Weiss Schritt für Schritt aus tiefsten seelischen Abgründen befreit und dabei die Kraft findet, weiterzumachen, bewegt und begeistert gleichermaßen. Die Lyrics machen diese neue Platte zu einem außerordentlichen Werk, doch sollte das musikalische Fundament keinesfalls außer Acht gelassen werden. Insgesamt mehr Mut zu Rock und kantigem Emo, ohne dabei die dramatischen, gelegentlich reduzierten Spannungsbögen des Vorgängers zu verlassen, kreiert eine eigenwillige wie kurzweilige Mixtur mit höchstem Suchtfaktor. Ob das hier mehr Into It als Over It ist, wird sich noch zeigen. Jedenfalls gelingt Weiss eine der größten positiven Überraschungen in einem Jahr, das solche in rauen Mengen brauchen kann.
Wertung: 4,5/5
Erhältlich ab: 18.09.2020
Erhältlich über: Big Scary Monsters (Membran)
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