Interpol – The Other Side Of Make-Believe

Interpol
(c) Ebru Yildiz

Die Umstände veränderten die Vorzeichen bei Interpol. Ausnahmsweise traf man sich nicht in einem Raum, um Songs live auszuarbeiten, sondern schickte sich Ideen hin und her, entwickelte Skizzen und bemühte zudem einen neuen Fokus. Natürlich hätten die etatmäßigen Noir-Themen prima zum Hier und Jetzt gepasst, doch wollte es sich das Trio nicht so einfach machen. Paul Banks schrieb lieber über Hoffnung, Anstand und Edelmut in schwierigen Zeiten, begleitet von einer neuen musikalischen Offenheit. Auf „The Other Side Of Make-Believe“ stellen sich Interpol quasi erneut vor.

„Toni“ macht vor, wie und worum es geht. Man will sich keinesfalls gänzlich von den finsteren Wurzeln entfernen, und doch schwingt eine gewisse melodische Fragilität mit, die förmlich durch die Strophen tänzelt. Neben dem recht präsenten Keyboard tauchen letztlich doch die typischen Interpol-Gitarren auf, Welten kollidieren. Noch besser macht es „Greenwich“, das sich zunächst in seiner Atmosphäre suhlt, schleppend und gedrungen. In der zweiten Hälfte verschiebt sich der Fokus, der Track nimmt zunehemend Fahrt auf und holt die vertraute Post-Punk-Energie zurück, ohne mit dem eigentlichen Charme des Songs zu brechen.

Stark ist auch „Big Shot City“, das irgendwo zwischen alten und neuen Interpol die Balance sucht. Banks und die Gitarre ziehen die Düsternis magisch an, doch gerade die Percussion verpasst dem Song eine gewisse Offenheit, durch den Nebel taumelnd und am Chaos vorbeischrammend. Hingegen schüttet sich „Fables“ mit Melodien und Texturen zu, die an die Anfangstage erinnern, zugleich jedoch Aufbruchsstimmung signalisieren. Eine gewisse monumentale Schwere lässt sich nicht von der Hand weisen. In „Something Changed“ erinnert das Keyboard an frühe Coldplay, bevor diese am eigenen Pop-Anspruch erstickten, und drückt mit zarter Leichtigkeit an die Wand.

Neu, alt und irgendwie alles dazwischen: Interpol erfinden sich neu, ohne sich wirklich neu zu erfinden. Eben jener Widerspruch zieht sich durch „The Other Side Of Make-Believe“ und treibt zu Höchstleistungen an. Die alten Noir-Meister sind natürlich weiterhin am Start, bloß im Kleinen, etwas zurückgenommen und deutlich offener. Es geht vermehrt um Atmosphäre, um den Fluss, um Anmut und um lichte Momente. Und so braucht es auch ein paar Durchläufe, bevor sich diese Platte so richtig erschließt. Ohne wirklich offensichtliche Hits entsteht ein charmanter Sleeper, der seine Wirkung über Zeit entfacht … und dann nicht mehr aus dem Ohr geht. Alles richtig gemacht.

Wertung: 4/5

Erhältlich ab: 15.07.2022
Erhältlich über: Matador Records / Beggars Group (Indigo)

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