Girl And Girl – Call A Doctor
Schrammelnde Gitarren, bewusst direkte und schonungslos ehrliche Texte, dazu eine Verbeugung vor allerlei Indie-Granden: Girl And Girl sind drauf und dran, durch die Decke zu gehen. Das australische Quartett entstand aus Jam-Sessions von Sänger und Gitarrist Kai James sowie Zweit-Gitarrist Jayden Williams in der Garage. James‘ Tante Liss griff im Garagen-Proberaum zu den Drum-Sticks und wurde ebenso zum Einstieg überredet wie Fraser Bell am Bass. In Marathon-Einheiten über zwei Wochen aufgenommen, widmet sich „Call A Doctor“ betont Persönlichem, getragen vom jahrelangen Kampf des Frontmanns mit dessen Mental Health.
Die deutlichen Worte von „INTRO“ finden sich direkt im Krankenhaus wieder und nähern sich dem Zusammenbruch, aus dem der Titeltrack „Call A Doctor“ entspringt. Fünf fieberhafte Minuten erinnern in Vocals und Schrammeln an frühe Bright Eyes, kantig und betont konkret, zittrig umgesetzt – perfekt zum Thema passend und geradezu forsch nach vorne marschierend. Man hängt James förmlich an den Lippen, lebt den Kampf mit, lässt sich von der plötzlichen Entspannung täuschen, bevor das Geschehen erneut punkig Fahrt aufnimmt und einen emotionalen Abgrund öffnet. Dort warten Songs wie „Suffocate“, die mit erdrückender Liebe kämpfen, eigentlich nicht viel mehr als eine schlichte Power-Pop-Idee darstellen und sich dennoch in einen gewaltigen Rausch spielen.
Hinter „You’ll Be Alright“ verbirgt sich eine Mischung aus Sarkasmus und Durchhalteparolen. Nichts ist eitel, der ermattete Vortrag mit seinem omnipräsenten Schmerz, angedeuteter Resignation und plötzlichem Abschweifen passt wunderbar ins Bild. „Maple Jean And The Anthropocene“ widmet sich hingegen einem etwas anderen Blick auf dem Klimawandel und illustriert den Egoismus der Spezies Mensch auf ausladende Weise. Das wiederholte Aufbranden und Abebben des Arrangements löst dezente Rauschzustände ab, zum Schluss fast schon hymnisch. Mit der Wechselwirkung von „Our Love (Ours Only)“ ist Girl And Girl eine weitere Perle gelungen – scharfkantig, voller enttäuschter Hoffnungen und doch fieberhaft und furios aufbrausend.
Kauzige Eingängigkeit, das umschreibt dieses magische Happening wohl am besten. Girl And Girl sind bevorzugt laut und schrammelig unterwegs, etwas schräg und schneidend, singen dabei mitten aus dem Leben. ‚Relatable‘ nennt das wohl im Neudeutschen, und tatsächlich gelingt „Call A Doctor“ geballte Repräsentation, rückt essenzielle Themen in den Mittelpunkt und holt zugleich große Songwriter-Kunst aufs Tableau. Die leicht chaotische, überbordende und verzerrte Optik soll nicht täuschen, denn dahinter verbergen sich elf exzellente Songs und großartiges Storytelling. Bereits mit ihrem ersten Album gelingt Girl And Girl ein spektakulärer großer Wurf.
Wertung: 4,5/5
Erhältlich ab: 24.05.2024
Erhältlich über: Sub Pop Records (Cargo Records)
Facebook: www.facebook.com/girlandgirl.music