Viagra Boys – Welfare Jazz

Viagra Boys
(c) Fredrik Bengtsson

Das neue Musikjahr streut blaue Satirepillen aus: Viagra Boys sind wieder da. Wo die Schweden 2018 mit „Street Worms“ begannen, lauert nun ein weiterer bizarrer Husarenritt, der abermals mit den Grenzen des Machbaren und Erwartbaren Schlitten fährt. Eine aufgrund von Drogen und Arschlochverhalten gescheiterte Beziehung ist der Ausgangspunkt von „Welfare Jazz“, das sich in weiterer Folge zu surrealistischen Sozialkommentaren und bitterböser Zerlegung überholter Klischees aufschwingt. Umgeben ist all das selbstverständlich von mittlerweile vertraut kauzigen Klängen zwischen Post Punk, Kraut, Alternative und Schießmichtot.

Sebastian Murphy war zumindest in der Vergangenheit kein netter Typ, und das thematisiert der Frontmann immer wieder. Der Opener „Ain’t Nice“ nimmt diese Feststellung und gestaltet sie zur Abhandlung über falsches Draufgängertum um. Aus schroffem Post Punk mit beißender Note wird ein verspielter, übellauniger Track, der die schmerzende Introspektive mit dem Skalpell der Umsicht zur Sezierung einer Gesellschaftskrankheit verformt. Klingt abstrakt, macht in seiner eigenwilligen Präsentation aber Laune. Ähnlich eingängig gibt sich „Creatures“, dessen dicker Bounce mit beinahe poppigen Untertönen und dem etatmäßigen Saxofon kollidiert. Im Track wird die Menschheit zum Unterseemonster, weil: stimmt irgendwie.

Eigentlich ist es gar nicht so einfach, ein Viagra Boys-Album in seine Einzelteile zu zerlegen, weil diese trotz ihrer Vielschichtigkeit letztlich doch als großes Ganzes erst richtig funktionieren. Und doch lassen sich einige Kapitel prima losgelöst konsumieren, darunter das schwerfällig schreitende, mit Gift und Galle schunkelnde, dennoch spitzbübisch grinsende „I Feel Alive“. Im direkten Anschluss drängt „Girls & Boys“ in die Indie-Disco und hangelt sich von Gender-Interpretationen zu Kauderwelsch, ein feiner Seitenhieb auf omnipräsente Rückständigkeit. Für „In Spite Of Ourselves“, im Original von John Prine, packen die Viagra Boys nicht nur apokalyptischen Electro-Country aus, sondern holen sich zudem die famose Amy Taylor (Amyl And The Sniffers) ins Studio für ein kleines Duett. Das wunderbar hibbelige „Toad“ hat hingegen sogar einen Hauch von Freejazz im Gebälk, drängt zugleich in sämtliche Himmelsrichtungen.

Abermals bleibt es ein zumindest musikalisches Mysterium, was zum Henker Viagra Boys eigentlich sagen wollen, und gerade das macht dieses zweite reguläre Studioalbum spannend. „Welfare Jazz“ fühlt sich konstant zwischen internalisierten Extremen hin- und hergerissen, zerstäubt dadurch externen Wahnsinn und flößt sich diesen ohne Filter ein. Das Ergebnis wirbelt nicht nur Audio-Staub auf und glänzt als steter Unruheherd des unorthodoxen Wahnsinns. Darauf ein Stamperl Rohrreiniger.

Wertung: 4/5

Erhältlich ab: 08.01.2021
Erhältlich über: YEAR0001 (Rough Trade)

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