Yard Act – The Overload
Großbritanniens moralischer Kompass sucht seit Jahren nach einer Art inneren Mitte. Yard Act spielen mit dieser Balance und finden diebische Freude daran, ihre düsteren und zugleich amüsanten bis zynischen Lyrics über Werte, Erwartungen und vermeintliche Aktionismen zu stülpen. Das Quartett aus Leeds verbrachte die Lockdown-Monate mit mehreren Singles, die gleich einen Hype sowie einen Major-Deal mit sich brachten. Nun gerät der hibbelige, sardonische Post Punk mit seinem Spoken-Word-Art-Rock-Fundament so richtig aus den Fugen: „The Overload“ entpuppt sich als präzise Momentaufnahme des Post-Brexit-Königreichs.
Und was für eine Momentaufnahme das ist … eine, die jederzeit aus den Fugen geraten kann. Der eröffnende Titelsong macht’s vor, angetrieben von James Smiths eigenwilliger Intonation, die meist im gesprochenen Bereich bleibt. Von quengeligen Gitarren, treibendem Basslauf und nervösen Drums unterspült, steuert der Vortrag über Klassenfetisch und Gentrifizierung auf einen pulsierenden, zugleich hymnischen Refrain zu. Im krassen Gegensatz dazu packt „Witness (Can I Get A?)“ wilden, angepunkten Indie Rock in 80 nervöse Sekunden und dreht komplett am Rad. Es ist nur einer von vielen Songs, die aus einem somit eigentlich nicht vorhandenen Rahmen fallen.
Ist „Tall Poppies“ die Antwort auf diesen hektischen Exkurs? Gut sechs Minuten später lautet die Antwort: vielleicht. Das lässige Langformat bekommt den narrativen Fäden der Briten gut, werden diese mit stoischer Ruhe und seltenen Verschärfungen sauber ausgebreitet. Ein paar Türen weiter übt „Dead Horse“ die Reduktion mit Dance-artigen Konzepten, ein wenig Funk in den Saiten und den Sleaford Mods im Vortrag. Vergleichsweise geradlinige Tracks, darunter das wunderbar tanzbare „Pour Another“ und das abgedrehte wie stilvolle „The Incident“, halten die Platte zusammen. Zum Abschluss bringt „100% Endurance“ fast schon so etwas wie Soul und Harmoniebedürfnis mit.
Diesem zarten Hype darf man mehr als nur Glauben schenken: Irgendwo zwischen Squid, Cassels, Pulp sowie Black Country, New Road bäumt sich eine neue Macht ab. Dabei ist „The Overload“ auf den ersten Blick sperrig und unzugänglich, zwischen Art-Rock-Ansätzen und Spoken-Word-Vortrag oft eher Poetry Slam für Fortgeschrittene als patentes Album. Doch genau in diesem vermeintlichen Widerspruch liegt das Besondere von Yard Act. Das konsequente Ignorieren jedweder Befindlichkeiten, gepaart mit rasiermesserscharfen Beobachtungen und einem musikalischen Unterbau, der auf nervöse und zugleich selbstsichere Weise etwaige Grenzen ignoriert, entsteht großes Kino. Und das soll wirklich erst der Anfang sein!?
Wertung: 4,5/5
Erhältlich ab: 21.01.2022
Erhältlich über: Island Records (Universal Music)
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