Eurovision Song Contest 2009: Von Märchen und Kosmonauten

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Europa ist geeint unter dem Stern eines norwegischen Violinisten mit weißrussischen Wurzeln. Milchbubi Alexander Rybak beweist mit „Fairytale“ nicht nur, dass „Lemon Tree“ auch 2009 noch funktioniert, sondern dass man den Kontinent einen kann. Gerüchten zufolge soll er demnächst EU-Botschafter seiner Heimat werden.

So weit, so unüberraschend. Bereits seit Wochen haben Buchmacher keine Wetten mehr auf Rybak angenommen, so deutlich war seine Favoritenrolle. Dafür hatte der 54. Eurovision Song Contest einige faustdicke Überraschungen in petto, womit nicht die gewaltsam aufgelöste Homosexuellen-Demo gemeint ist. Scheinbar funktioniert die neue Voting-Form – eine Kombination aus Publikums-Voting und Fachjury. Zumindest kann man angesichts des Resultats nicht mehr von einer reinen osteuropäischen Nachbarschaftshilfe sprechen, auch wenn der eine oder andere traditionelle Zwölfer nicht fehlen durfte.

Doch der Reihe nach. Erstes Highlight der Show: Cirque du Soleil, vermutlich stellvertretend für so manchen musikalischen Drahtseilakt, der folgen sollte. Wie es nicht geht, beweist anschließend Dima Bilan, der sich (leider nur) fast mit seinem eigenen Sakko stranguliert. Auch den Moderatoren hätte ein Sprachkurs gut getan. Wer die Raumstation ISS anruft und dabei „can you read me“ schreit – eh wissen. Das gemischte Doppel wirkte ein wenig hölzern, ähnlich wie die unnötigen Einspielern. Vermutlich hatte man beim Publikum einen gewissen Vodka-Pegal vorausgesetzt, ersatzweise auch Prosecco. Wobei, dafür hätte es wohl auch Prügel gegeben.

Litauen durfte die Eröffnung in den Sand setzen. Netter Song, nettes Stimmchen, allerdings mehr Chaos denn tatsächliche Melodie. Außerdem gibt’s die gelbe Karte für den Roger-Cicero-Gedächtnishut. Bei Israel geht es semi-jiddisch vor sich, die beiden Damen versuchen sich kurzzeitig als Safri Duo. An dritter Stelle Patricia Kaas für Frankreich, der größte Name dieser Veranstaltung. Minimalismus in Reinkultur, die letzte Grande Dame des Chanson steht allein (allein) auf der Bühne. Über die Stimme mag man geteilter Meinung sein, das abschließende Tänzchen war dafür gruselig. Was die Schweden im Televoting geritten hat, ist eine andere Frage. Eine Performance, so steif wie das Kleid. Der Operngesang etappenweise weit über den Grenzen des Erträglichens. Ähnlich schwer erträglich wie die Kroaten. Man muss nicht immer jodeln, um aufzufallen.

Portugal ließ optisch die Hippie-Bewegung wieder auferstehen. Folklore mit einer abgemagerten Adele und „Listen to the flower people“ – definitiv angenehm anders. Größte Überraschung war mit Sicherheit der zweite Platz für die isländische Ballade. Understatement, Charme und gutes Bühnenbild – es kann so einfach sein. Da muss man nicht unbedingt auf überdimensionalen Hefter herumtanzen, wie es der griechische Tripper Sakis Rouvas mit viel zu kurzem Hemd demonstrierte. Musikalisch ganz gut, gesanglich allerdings sehr unausgeglichen. Wie Lady GaGa in einem streng islamistischem Land auftreten würde, zeigt wenig später das armenische S&M-Duo. Zwei Jodler für kein Halleluja. Gastgeber Russland hat sich selbst disqualifiziert. Man lässt eine Ukrainerin auflaufen, deren Gesicht unvorteilhaft auf einer Armada von Bildschirmen erscheint und merklich altert. Wie übrigens auch der Hörer während des Auftritts.

Die Top-Platzierung von Aserbaidschan hat ebenfalls überrascht, kommt aber gar nicht so ungewöhnlich. Arash kennt man in Pop-Europa natürlich, AySel hat ihre Sache gut macht. Schmissiger Ethno-Pop mit EU-Crossover … and Arash was playing his own instrument. Wenig später startet für Bosnien Regina. Keine Pizza, sondern die nationale Coldplay-Coverband. Mit gutem Gesang wäre hier wohl mehr gegangen. Die Folklore-Ruslana geht für Moldawien ins Rennen. Unorthodoxe Tänzer, keine Stimme und ein Background-Typ, der seine Stange fest umklammert. Ähem… Chiara für Malta ist bei ihrer dritten Teilnahme ein Phänomen. Wie die Leber mit ihren Aufgaben wächst, wächst Chiara (the Hutt) mit ihren Teilnehmen. Gesanglich annehmbar, das schwache Abschneiden daher überraschend. Nach Miss Piggy greift Pocahontas an. Urban Symphony für Estland erinnern mit düsterem Charme ein wenig an Kerli, hat aber keinen einprägsamen Song am Start.

(c) Alexander RybakDen dänischen Beitrag hat Ronan Keating verfasst, offensichtlich aber auch vorgetragen – ein stimmlicher Doppelgänger, auch das Aussehen war nicht unähnlich. Guter Standardpop. Dann der deutsche Supergau, allerdings nur im Endresultat. Eigentlich war „Miss Kiss Kiss Bang“ gut unterwegs, laut und wuchtig. Woran mag es gelegen haben? Am unmotivierten Backgroundsänger? An Plastik-Teese? Oder an Hoyas-Glitzerhose. Vermutlich auch einfach an den folgenden Stimmungsmachern. Dönernbuden-Marketingassistentin Hadise geht mit „Düm Tek Tek“ in den Harem und bleibt unaufregend – in etwa das, was man sich von der Türkei standardmäßig erwartet. Der albanische Auftritt bizarr: Zwei Zwerge, ein Typ im türkisen Ganzkörperkostüm und ein 17jähriges Lolitawunder ohne Stimme. Willkommen in Bizarroland. Kein Problem für Alexander Rybak anschließend, der mit den Augenbrauen of Death das Publikum für sich gewann. Stimmlich ein wenig außer Puste, musikalisch dafür solide – gerade auf CD ist „Fairytale“ stark und hat nicht umsonst Hitpotential.

Ukraine: Show eben. Callboy-Gladiatoren. Hampel-Pampel und seine Zwerge. Hamsterräder vs. Stargate. Und Annemarie Eilfeld. Dann noch ein wenig auf das Schlagzeug. Was für ein überladener, pompöser, lächerlicher Auftritt. Der Song wäre nicht schlecht gewesen. Rumänien punktet mit Krepppapier-Kleidern, dazu Reigen-Gehampel. Kindergarten war auch die Stimme. Verblasen hat sie Jade Ewen für die Briten. Die große Musical-Ballade unter der Leitung von Andrew Lloyd Webber (wo ist Maxwell Sheffield, wenn man ihn braucht?) könnte tatsächlich der Start für eine große Karriere sein und überrascht positiv. Nach den Finnen hingegen wünscht man sich die Bomfunk MC’s zurück. Kann man denn nicht mal die Outfits koordinieren? DJ Bobo rotiert im Eurotrashgrab. Mit dabei auch die schmalbrüstige Spanierin. Unbestrittenes Highlight ihr Verschwindezauber. Hätte sie nicht wegbleiben können?

The rest is history, as they say. Rybak gewinnt mit Rekordvorsprung – verdient, aber zu viel ist zu viel. Kein Wunder, dass der gute Mann bereits bei einem Majorlabel unter Vertrag ist. Von Jade Ewen sieht man sicherlich auch noch mehr, der Rest verschwindet vermutlich in der Versenkung. Armes Deutschland, aber wir wollen weder von Waterloo noch von einer namentlich nicht erwähnten Schlacht vor über 60 Jahren sprechen. Für die Jury vermutlich zu platt, fürs Publikum nur Durchschnitt. Unterm Strich Platz 20. Dafür ist die Ostphalanx durchbrochen. Oslo 2010 – zu dieser Zeit dürften Rammstein ihr neues Album betouren. Oder Tokio Hotel.