Pleil – Keine Zeit

Pleil
(c) Soheyl Nassary / EYETM Design & Kommunikation

Unorthodoxe Faszination begleitete „Die Spur des Kalenders“, das erste Solowerk des Veteranen Marco Pleil. Der Lo-Fi-Ansatz – E-Gitarre, Stimme und Distortion allein im weiten Raum – schlug im Frühjahr 2020 ein, passte zu den damals noch neuen Umständen einer isolierten Welt. Live bleibt Pleil diesem Konzept treu, will auf Platte allerdings nun sämtliche Grenzen einreißen. Experimente sind willkommen, Elektronik erhält eine prominente Rolle, ohne dabei den ursprünglichen Sound ad acta zu legen. Der Musiker hat „Keine Zeit“ und tankt sich durch zwölf Songs in unter einer halben Stunde.

Kinobesuche waren auch schon mal schöner, befindet der Protagonist, und mimt den Zyniker in „Das neue Kino“, wo Popcorn und Explosionen den Intellekt in ein stilles Kämmerchen einsperren. Passend rollt der Track etwas von hinten an, gefühlt leicht zeitversetzt, wie das Thema an sich. Zur gelegentlich launischen Gitarre gesellt sich ein lockeres Beat-Konzept, ein paar Effekte kreisen rund um das Leitmotiv. Die Reduktion ist noch da, bloß wirkt das Drumherum kraftvoller. Das gilt auch für „Zimmer frei!“, auf dem Papier eine understatete Hymne mit einem Hauch Hamburger Schule, nun jedoch etwas aufgeplustert, vielschichtig, lebhafter. Das klappt erstaunlich gut.

In „Depressive Komödianten“ kommt der Drum-Computer gar fabulös. Gemeinsam mit leicht synthetischem Unterbau und zusätzlichen Gitarrenspuren kriegt das Ding einen dezent poppigen Einschlag. Ja, auch das ist noch Pleil, im besten Sinne kurios und eingängig, mit Wave- und Electro-Rock-Elan als wunderbarem Zusatz. „Sohn des Zeus“ begradigt die verzerrte Gitarre durch federndes Dickicht und geht im Widerspruch auf, macht aus dem scharfkantigen Grundkonzept einen nahezu harmonischen Charmebolzen. In „Das Offensivmoment“ darf es dann doch etwas schiefer vor sich gehen, zeitweise sogar leicht jazzig und jenseitig.

Es ist ein anderer Marco Pleil, der auf diesem zweiten Album auftritt, und doch im Kern weiterhin dieselbe (musikalische) Person. Das Paradox wird zum Lehrstück für sympathische Musik. „Keine Zeit“ rauscht förmlich durch mit dem einen oder anderen Schwank aus dem Leben, mit kurzweiligen Alltagsbeobachtungen und der steten Suche nach der wohligen Auflösung allen Seins. Der frische Wind bekommt dem Musiker sehr gut, zumal die krachenden, reduzierten Wurzeln weiterhin gut erkennbar bleiben. Sie strecken sich nun bloß in verschiedenste Himmelsrichtungen aus – ein unerwarteter, richtig guter Schritt.

Wertung: 4/5

Erhältlich ab: 01.07.2022
Erhältlich über: Timezone Records (Timezone)

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